Anders sein
- tanjaschneider96
- 26. Jan.
- 3 Min. Lesezeit
Anerkennung und Identität: Ein Blick auf unterschiedliche Kulturen

"Ver-" und "Rücken" - Verrückt sein
Das Wort „verrückt“ birgt in meinen Augen eine tiefe Symbolik in sich, wenn man es in seine Bestandteile zerlegt. Das Präfix „ver-“ deutet auf eine Veränderung, ein Wegbewegen vom Normalen hin zu etwas anderem. Es steht für eine Verschiebung, eine Bewegung, die einen neuen Blickwinkel eröffnet. „Rücken“ wiederum verweist auf die Position, die jemand einnimmt – sowohl physisch als auch metaphorisch.
Etwas „verrücken“ bedeutet, es aus seiner bisherigen Ordnung zu lösen, um es an einen neuen Ort zu bringen.
Wenn also jemand als „verrückt“ bezeichnet wird, könnte das ebenso gut bedeuten, dass er oder sie mutig genug ist, den gewohnten Platz zu verlassen und sich auf unbekanntes Terrain zu begeben. Es ist eine Einladung, die Welt aus einer neuen Perspektive zu betrachten und eingefahrene Muster zu hinterfragen. Vielleicht liegt darin das wahre Potenzial des Verrücktseins: die Fähigkeit, Grenzen zu verschieben und neue Wege zu erkunden, die für andere zunächst unverständlich erscheinen mögen.
"Du bist ja auch ein bisschen verrückt."
Dieser Satz hat mich in den letzten Tagen wieder zum Nachdenken gebracht. Ich höre ihn seit ich in der Oberstufe angefangen habe, mich mit Japan zu beschäftigen und eine Seite von mir zu entdecken, die ich bis dahin noch nicht kannte. Immer wieder frage ich mich: Ist das ein liebevoll gemeintes Kompliment? Oder ist es eine subtile Kritik daran, dass ich meinen eigenen Weg gehe, der nicht der Norm entspricht?
Warum scheint es in Deutschland so schwierig zu sein, Anerkennung für das Anderssein zu bekommen, während ich von meinen japanischen Freunden häufig so positive Rückmeldungen erhalte?
In Deutschland höre ich oft Sätze wie: "Das ist ja verrückt, was du machst," oder "Ich könnte das nicht." Diese Aussagen sind zwar nicht direkt negativ, tragen aber oft einen Unterton von Skepsis oder Distanz in sich. Warum ist das so? Warum scheint es in Deutschland so wichtig zu sein, in ein bestimmtes Raster zu passen und einfach "normal" zu sein, während in Japan mein Mut, meine Ziele und meine Fähigkeiten bewundert werden?
Natürlich ist es immer wieder vor dem Hintergrund zu sehen, das ich hier grundsätzlich eine Person bin, die nicht in Japan geboren und aufgewachsen ist, jedoch tief in sich die Werte und Prinzipien der japanischen Kultur trägt und diese auch lebt.
In Gesprächen mit meinen japanischen Freunden bekomme ich oft zu hören: Tanja wa sugoi ne. („Du bist echt toll“), oder sie drücken direkt ihre Bewunderung für meinen Weg und meine Entscheidungen aus. Sie sehen mich nicht als „verrückt“ oder „anders“, sondern als besonders. Diese Anerkennung fühlt sich so ehrlich an und gibt mir Kraft. Aber warum scheint das in Deutschland anders zu sein? Warum machen mich manche Menschen in meinem eigenen Heimatland kleiner, während ich in Japan aufgefangen, aufgebaut und bestärkt werde?
Eine mögliche Antwort könnte in kulturellen Unterschieden liegen. Deutschland hat eine starke Kultur der Sicherheit und Struktur. Wer aus diesen Strukturen ausbricht, wird oft als risikobereit oder gar als „unvernünftig“ wahrgenommen. In Japan hingegen, obwohl es eine stark kollektiv geprägte Gesellschaft ist, wird Individualität, die sich in Form von Fähigkeiten und Zielen zeigt, eher als etwas Besonderes betrachtet. Dort bewundert man Menschen, die den Mut haben, ihren Träumen zu folgen – vielleicht gerade weil viele selbst dazu erzogen wurden, nicht aus der Masse hervorzustechen.
Dann gibt es noch eine weitere Ebene: die zwischenmenschliche Dynamik. Könnte es sein, dass manche Menschen in Deutschland sich unbewusst von meinem Weg bedroht fühlen? Wenn jemand einen Traum lebt, den andere vielleicht nie zu verfolgen gewagt haben, könnte das zu einer Art defensiver Haltung führen. Ein Kommentar wie „Du bist verrückt“ könnte dann weniger über mich aussagen, sondern mehr darüber, wie sie sich selbst sehen.
Das wirft die größere Frage auf: Warum ist es so schwer, andere Menschen einfach so anzuerkennen, wie sie sind? Warum wird Anderssein oft als Bedrohung wahrgenommen und nicht als Bereicherung? Ist es nicht gerade die Vielfalt an Träumen, Ideen und Wegen, die unsere Welt interessant macht?
Vielleicht liegt die Antwort darin, wie wir in Deutschland und Japan mit dem Thema Identität umgehen. In Deutschland wird oft nach Leistung und Konformität bewertet. Wer aus der Reihe tanzt, muss sich rechtfertigen. In Japan hingegen, wo die Gruppenharmonie sehr wichtig ist, kann individuelle Stärke trotzdem als etwas Bewundernswertes gelten, wenn sie zur Bereicherung des Ganzen beiträgt.
Für mich ist es eine ständige Übung, mich nicht von negativen Kommentaren beeinflussen zu lassen. Gleichzeitig möchte ich Menschen um mich herum zeigen, dass es möglich ist, seinen eigenen Weg zu gehen, ohne sich fürs Anderssein zu entschuldigen.
Am Ende ist es wohl das Wichtigste, dass wir zu uns selbst stehen und unseren Wert erkennen – egal, ob jemand uns für "verrückt" oder "besonders" hält.
Tanja, du bist eine großartige Philosophin