Guten Morgen Welt.
Lasst mich euch mitnehmen durch einen ganz normalen Arbeitstag hier in Kyoto, damit ihr eine kleine Vorstellung von der Welt bekommt, in welcher ich seit einem Jahr lebe.
Das leise, aber stetige Klingeln des Weckers reißt mich aus meinem Schlaf.
Piep, piep, piep.
Piep, piep, piep...
Ein nerviger Ton, der mich daran erinnert, dass das echte Leben außerhalb der Traumwelt stattfindet. Noch immer halb schlaftrunken und mit schweren Lidern öffne ich die Augen einen kleinen Spalt und blinzle in den Raum.

Draußen ist es taghell, und die Sonne beleuchtet die weiße Metallwand des Gebäudes gegenüber meines Balkons und lässt leise ihre Strahlen durch die Öffnungen des Sento-Vorhangs, der mir als Gardine dient, fallen.
Ich strecke meine Hand unter der Decke hervor und schalte den Wecker aus. Die Luft im Raum ist kalt, was es mir nicht wirklich leichter macht, unter dem warmen Futon hervorzukriechen. Ich lasse mich halb von der Matratze gleiten, fische mit langem Arm die Fernbedienung für meine Klimaanlage vom Tisch, die mir im Winter als Heizung dient, und schalte sie ein. Das gewohnte Klackern und Summen sich drehender Motoren und Turbinen sickert durch die Balkonfenster, und nach einigen Minuten des Wartens weht ein angenehm warmer Wind durch den Raum.
Ich habe mich währenddessen wieder unter den Futon verkrochen und starre gedankenverloren an die Decke meines Zimmers. Was würde heute wohl für ein Tag werden? Welche Menschen würden in den Laden kommen? Was sollte ich mir zum Mittagessen holen?
Alltägliche Fragen schleichen durch meinen Kopf, während ich darauf warte, dass die Heizung das Zimmer auf "Aufsteh-Temperatur" bringt.
Die Winter in Kyoto sind kalt, und die Wände japanischer Häuser sind dünn, wodurch ohne eine stetige Wärmezufuhr Räume und Böden sehr schnell auskühlen.
Nach einigen Minuten raffe ich mich auf und schlage die Decke zurück. Ich schlüpfe in meine Tatami-Hausschuhe und husche in das noch immer sehr, sehr kalte Bad.
Aus dem Spiegel schaut mich ein müdes Gesicht an, das jedoch ein gewisses Glitzern in den Augen hat. Die Aussicht darauf, in der Stadt, in die ich mich im letzten Jahr Hals über Kopf verliebt habe, meinen Alltag zu bestreiten, ist mehr als eine rosige Aussicht.
Ich drehe den Wasserhahn auf und warte nicht, bis das Wasser sich aufgewärmt hat. Das kalte Nass belebt die Geister und verteilt das Lächeln auch auf dem Rest meines Gesichtes.
Zähne geputzt und angezogen hocke ich mich vor meinen kleinen Kühlschrank. Natto, fermentierter Kohl, Miso-Paste und ein Ei ziehen um – vom Kühlschrank auf die Arbeitsplatte. Ich lasse Wasser in einen kleinen Topf plätschern, und das Klicken des Gasherdes zaubert mir erneut ein Lächeln auf das Gesicht.
„Das Leben kann so einfach sein“, schießt es mir durch den Kopf.
Während das Wasser auf dem Herd anfängt, langsam Blasen an die Oberfläche zu befördern, habe ich dampfenden Reis in meine Schüssel umgefüllt, das Natto angerichtet und aus dem kleinen Schrank unter meiner Spüle Wakame-Algen, Trockentofu und Thunfischflocken geholt.
Ich rühre die Miso-Paste durch ein Sieb in das kochende Wasser, gebe die restlichen Zutaten hinzu und schaue den Miso-Wolken in der köchelnden Suppe zu, wie sie vom Rand in die Mitte gedrängt werden, wo sie absinken und sich das Schauspiel wiederholt. Heute ist ein langsamer Morgen, an dem ich es mir gönne, in Ruhe zu Hause und nicht auf Arbeit in aller Eile zu essen.
Nach ein, zwei Minuten nehme ich den Topf vom Herd, fülle die Suppe ebenfalls in eine kleine Schüssel und gehe zurück in mein Schlaf-Wohnzimmer. Ich stelle alles auf dem niedrigen Tisch in der Mitte des Raumes ab und setze mich auf meinen grünen Teppich.
Als um 10:30 Uhr der zweite Wecker klingelt, weiß ich, dass ich mich langsam fertig für die Arbeit machen muss. Ich schnappe meinen Rucksack, verfrachte meinen Laptop darin, hole meine Thermostasse aus der Küche und lasse sie ebenfalls im Rucksack verschwinden. Begleitet von einem leisen Piepton schalte ich die Heizung aus und ziehe im gleichen Atemzug den Stecker des Heiztisches aus der Steckdose.
Das Licht ausgeschaltet und noch einmal kontrolliert, dass das Gas auch abgedreht ist, verlasse ich – warm in Schal und Daunenjacke eingepackt – mein kleines Apartment.
Die Sonne scheint und taucht die Berge im Westen Kyotos in warmes Licht. Ein Anblick, an dem ich mich wahrscheinlich nie sattsehen werde.

Ich schlendere die Treppen hinunter, begrüße eine Nachbarin und laufe die kleine Gasse entlang, welche mich zur Hauptstraße und auf meinen Arbeitsweg führt. Die Higashiyama-Hauptstraße, welche meine Wohnung direkt mit meiner Arbeit verbindet, ist eine immer belebte Straße mit Autos, Bussen, kleinen Rollern und vielen Menschen. Ich laufe die Straße entlang, begleitet vom Zwitschern der Ampeln, den Gesprächen der Menschen und dem Brummen des Verkehrs. Eine Harmonie, die Lieder der Einfachheit spielt und mich wiederholt lächeln lässt. Auch wenn ich manchmal das Gefühl habe, die Monotonie des Alltags verschlingt mich, finde ich in genau diesen kleinen Momenten immer wieder einen kleinen Lichtstrahl, der das Dunkel durchbricht.

Während ich die Sanjo-Brücke überquere, schweift mein Blick in die Berge im Norden der Stadt. Während der Fluss rauschend unter mir hinweg fließt, stehen die weißen Riesen wachsam in der Ferne und schweigen mich mit ihren schneebedeckten Häuptern an.
Die Sonne, die ihre warmen Arme um mich legt, lässt mich fast vergessen, dass das Jahr gerade erst neu begonnen hat und wir uns immer noch im Januar befinden.
Ich gehe weiter, an den ersten Restaurants vorbei, und stelle wie jeden Morgen fest, dass es mit jedem Tag wieder mehr Touristen nach Kyoto zieht. Menschen aus aller Welt, die sich die alte Kaiserstadt anschauen wollen. Ich bin dankbar, dass sie hier sind, Leben und Geld in die Stadt bringen, doch all das hat einen bitteren Beigeschmack. Es gibt sie auch hier, die Menschen, die sich benehmen, als würde ihnen die Welt gehören, als müssten sie sich nicht an die sozialen Normen und Regeln halten. Menschen, die ihren Müll in Seitengassen stehen lassen, Menschen, die in der Mitte des Weges stehen und anderen Passanten den Weg versperren, Menschen, die keine Rücksicht auf ihre Umwelt nehmen.
Doch aktuell sind es nur wenige, und das genieße ich.

Die letzte Kreuzung ist überquert, und ich tauche ein in die Lebendigkeit der Sanjo-Meitengai. Einer recht kurzen, überdachten Einkaufsstraße, die immer das Gefühl vermittelt, die Welt würde nie schlafen. Düfte von frittierten Edamame, geröstetem Tee und frischen Taiyaki, Teigfischen gefüllt mit roter Bohnenpaste, schlagen mir entgegen, während ich in die Einkaufsstraße abbiege, in der unser Laden liegt. Die Shinkyogoku-Shoutengai verbindet die zwei Haupteinkaufsstraßen Sanjo und Shijo im Zentrum Kyotos und ist nun seit einem Jahr mein Arbeitsplatz. Ich schaue die Straße hinab. Heute sind nicht so viele Menschen unterwegs. Hauptsächlich Japaner, hier und da ein paar ausländische Gesichter.
Ich krame den Schlüssel aus meiner Jackentasche heraus und fahre den Rollladen so weit hinauf, dass ich darunter hindurchschlüpfen kann. Drinnen im Laden ist alles dunkel, doch inzwischen weiß ich, wo die Schalter sind, wo die Tische enden und die Regale beginnen. Ich schlängle mich in den hinteren Teil und schalte das Sicherheitssystem aus.
Nachdem ich meinen Rucksack auf dem Tisch abgestellt habe, schnappe ich mir meine Zeitkarte und lasse sie in die Stechuhr gleiten.
Ratter, Ratter, Piep. Und schon ist die Zeit auf die Karte gedruckt.
Die Routine greift, und ich nehme meinen Korb, in dem mein Arbeitskimono liegt, aus dem Regal und beginne mich umzuziehen. Meine Hände bewegen sich von allein, binden die Schnüre, die den Kimono in Position halten, zusammen, legen den Gürtel an, falten Stoffbahnen. Meine Alltagskleidung ist im Korb verstaut, und keine 10 Minuten nach Umkleidebeginn bin ich fertig.
Ich gehe wieder nach vorn in den Laden, schalte die Lichter an, klappe den Computer auf und befülle die Kasse. Alles Handgriffe, bei denen ich inzwischen nicht mehr denken muss. Als die Uhr 12 schlägt, fahre ich den Rollladen komplett auf und starte meine Schicht. In anderthalb Stunden kommt meine Kollegin, die die Spätschicht übernimmt, doch bis dahin bin ich im Laden allein...
Comments