
Heute habe ich mein 18-jähriges Teenager-Ich in ein Café eingeladen.
Ich bin 10 Minuten zu früh und sie kommt 5 Minuten zu spät.
Sie lächelt mich an, ich lächle zurück und nach einer kurzen Umarmung gehen wir hinein.
Sie bestellt einen Matcha Latte, ich einen warmen Hojicha und zahle für uns beide.
Ihre rot gefärbten Haare stehen wie immer wild von ihrem Kopf ab, während ich, meine nun braunen Haare in einem lockeren Dutt zusammengebunden habe.
Wir nehmen uns einen Fensterplatz und die erste Frage, die sie stellt, ist:
"Hatten wir den Mut, unseren eigenen Weg zu gehen und sind trotz allem nach Japan gegangen?"
"Ja, das sind wir.", antworte ich. "Mehr als ein Mal. Wir haben hier unser zu Hause gefunden. Menschen, die Familie geworden sind und uns sicheren Halt geben."
Sie lächelt ein so warmes Lächeln, dass sich ein Kloß in meinem Hals bildet.
"Danke, dass du durchgehalten hast.", sagt sie.
"Es war nicht immer leicht und wir wollten oft aufgeben.", sage ich leise. "Es gab und gibt jedoch Menschen in unserem Leben, die uns unterstützen und für uns da sind. Mama ist eine dieser Personen, die immer unser Potenzial gesehen und tief in unser Herz blicken konnte, auch, wenn du es jetzt noch nicht sehen magst. Und auch Papa ist zu einem Menschen geworden, der unsere wilden Projekte und Ideen unterstützt und einfach möchte, dass wir glücklich sind, egal, wo auf der Welt. Wir sind weiter gegangen als du es dir vorstellen kannst und auch noch nicht angekommen." ist meine Antwort.
Die zweite Frage, die sie stellt, ist:
"Haben wir es geschafft, Japanisch zu sprechen? Nicht nur ein paar Wörter, sondern können wir kommunizieren, uns mit anderen unterhalten und das sagen, was uns auf der Seele brennt?"
"Ja, auch das haben wir geschafft. Wir sind immer noch dabei zu lernen, aber wir sprechen inzwischen so akzentfrei, dass viele Menschen davon ausgehen, wir sein in Japan geboren und aufgewachsen." beantworte ich ihre Frage lachend und nehme einen Schluck von meinem Tee.
Jetzt breitet sich das Lächeln über ihr gesamtes Gesicht aus.
"Danke, dass du weitergemacht hast.", sagt sie und nimmt ebenfalls einen Schluck von ihrem Getränk.
"Wir waren nie allein.", sage ich und schaue verträumt aus dem großen Fenster hinaus auf die belebte Straße. "Wir waren jeden Moment umgeben von Menschen, die unsere Stärken und unsere Leidenschaft gesehen haben, uns unterstützten und darauf drängten, dass wir weitergehen. Menschen, die uns ermutigt haben, nicht aufzugeben, besonders wenn es schwer war oder die Selbstzweifel und der Perfektionismus uns mal wieder in eine Ecke getrieben hatten. Wir werden geliebt, unterstützt und wertgeschätzt."
Ich sehe aus dem Augenwinkel, wie sie die Hände unter ihre Oberschenkel schiebt und mich anschaut. "Also haben wir es geschafft, dass wir nachsichtiger, geduldiger und selbstbewusster geworden sind? Oder zweifeln wir noch immer an unserem Wert und unseren Fähigkeiten?"
Eine leise Traurigkeit steigt in mir auf, als ich die Worte höre. Ich rutsche meinen Stuhl näher zu ihrem und lege sanft meinen Arm um ihre Schultern.
"Wir sind geduldiger geworden. Wir sind nachsichtiger mit uns selbst und haben gelernt, das Worte sehr viel Macht haben. Wir sprechen jetzt liebevoller mit uns und sind nicht mehr so streng, wenn wir mal einen Fehler machen. Wir kennen inzwischen unseren Wert, aber die Angst vor dem Verlassenwerden schränkt uns in unserer Freiheit noch immer etwas ein. Manchmal fällt es uns noch schwer unsere Gedanken und Gefühle ehrlich zu benennen, weil wir nicht abgelehnt werden wollen, aber wir sind bewusster geworden und gewachsen."
Ich merke, wie sie ihr Gewicht gegen mich sinken lässt und schließe meinen Arm fest um das Mädchen, was ich vor 10 Jahren war. Wilde Haare, manchmal ein gezwungenes Lächeln auf den Lippen, um den Schein der heilen Welt zu wahren. Ein Mädchen, was an sich selbst und an der Liebe in der Welt zweifelt.
"Danke." höre ich sie leise sagen, während sie sich wieder aufrichtet.
"Sag, haben wir eine beste Freundin gefunden?"
Bei diesen Worten muss ich lachen und erinnere mich flüchtig an meine Schulzeit. Hin- und hergerissen zwischen Freundesgruppen, die nicht wirklich aus ehrlichen Freundschaften bestanden, sondern mehr aus Neid, Missgunst und gegenseitiger Manipulation, mit mir als Spielball in der Mitte und nur wenigen Menschen die hin und wieder eine "Freundschaft" aufbauten.
"Ja, haben wir.", sage ich mit einem Lächeln. "Und nicht nur eine. Wir haben sowohl in Japan, als auch in Deutschland Menschen kennengelernt, die uns genau so sehen und lieben, wie wir sind. Dort können wir weinen, lachen, herumalbern und Späße machen, ohne Angst davor zu haben, ausgelacht zu werden. Wir haben Menschen gefunden, die uns durch die Höhen und Tiefen des Lebens begleiten und auch wenn sie manchmal etwas weiter weg sind, sofort ans Telefon gehen, wenn wir anrufen. Menschen, bei denen wir einfach wir selbst sein können."
Sie lächelt und ich kann sehen, dass sie erleichtert ist.
"Eine letzte Frage noch." beginnt sie, während ihre honigbraunen Augen meine suchen:
"Werden wir geliebt? Finden wir endlich den Menschen, der uns so liebt, wie wir sind? Der da ist, wenn wir ihn brauchen und uns einfach sein lässt?"
"Ja.", sage ich und erwidere ihren Blick. "Dieser Mensch bist du." Ich stupse mit meinem Zeigefinger auf ihre Nase und ernte einen verwunderten Blick.
"Dieser Mensch bin ich. Wir sind der Mensch, den wir suchten und wir haben uns gefunden. Wir hatten Unterstützung von Menschen mit denen wir Freundschaften und Partnerschaften eingegangen sind. Wir erhielten Hilfe von Mama und Papa, von Tim und Lena. Von Familie und Freunden. Von Chris, mit dem wir seit über acht Jahren zusammen sind. Und jetzt, jetzt sind wir sicher. Du bist sicher, hier bei mir und ich liebe dich und mich." sage ich und streiche ihr sanft über den Kopf. "Die Angst davor, allein zu sein oder die Liebe im Außen finden zu müssen, ist noch immer da. Aber die Zeit in Japan und auch die Zeit in Deutschland, hat uns wachsen lassen und dazu geführt, dass wir uns nun aus freiem Willen für oder gegen Menschen entscheiden können, mit denen wir mehr als nur ein bekanntschaftliches Verhältnis aufbauen wollen. Wir sind nicht mehr abhängig von Bestätigung oder Rückversicherung in dem, was wir tun. Wir sind frei."
Ich beobachte, wie ihr etwas ungläubiger Blick auf mir ruht. Ich bin durch all die Momente schon gegangen, welche sie noch vor sich hat. Habe den Schmerz schon durchstanden, welchen sie noch fühlen darf. Habe das Vertrauen schon gewonnen, welches sie noch sucht. Doch ich weiß ganz genau, dass sie es schaffen kann, weil ich es schon geschafft habe. Ich lächle ihr zu und versuche ihr ohne Worte ein Gefühl der Sicherheit zu vermitteln.
So sitzen wir noch eine Weile da, trinken unsere Lieblingsgetränke und schauen dem Leben auf der Straße zu.
Als wir uns verabschieden sehe ich ihr nach, wie sie leichten Schrittes die Straße hinunterläuft und in den Massen meiner Vergangenheitsichs verschwindet. Ich freue mich schon, wenn ich sie das nächste Mal einladen kann. Vielleicht dauert es dann nicht 10, sondern nur 5 Jahre, bis wir uns sehen. Und vielleicht hat sich dann nicht nur das Getränk, sondern auch die Art der Fragen verändert.
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